10.08.2021

Ein jüdisches Filmfestival muss politisch sein

Brisant, aktuell, aber stets differenziert und mit sehr unterschiedlicher Herangehensweise beleuchten die Filme des 27. JFBB von 12. bis 22. August 2021 vergangene und gegenwärtige Lebensrealitäten zwischen Israel und Palästina, Deutschland und Polen, zwischen Privatem und Politischem, benennen Auslassungen und verzerrte Geschichtsschreibungen. Eine ganze Reihe politischer Themen ziehen sich durch das JFBB-Programm, wie die Traumata-Verarbeitung, die Shoa und das Verhältnis zwischen Israel und Palästina. Die JFBB- Programmauswahl zeigt wie aus politischen Umbrüchen persönliche Geschichten und die Biografie prägende Erzählungen werden.

„Anhand der Filme unseres Festivals lässt sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts aufarbeiten. Das Geschehene wirkt bis heute schmerzlich nach, lässt Menschen zerbrechen und sterben, auch ohne dass sie in einem der Konflikte, die mit Waffen ausgetragen werden, ihr Leben verlieren“, sagt JFBB-Programmdirektor Bernd Buder. „Von Berlin oder Potsdam aus, der Region, in der einst die Shoa geplant wurde, darf unser Blick nicht nur nach hinten gehen. Im Gegenteil, wahrscheinlich muss er nur von der nächsten zur übernächsten Haustüre wandern, um zum Beispiel Antisemitismus zu entdecken, der häufig der Samen und Wurzel für die blühenden Verschwörungserzählungen ist.“

Im Dokumentarfilmwettbewerb des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg nimmt sich Regisseurin Sharon Ryba-Kahn, Angehörige der dritten Generation von Überlebenden der Shoa, mit DISPLACED die eigene Familiengeschichte vor. Die gemeinsame Vergangenheit wird nach einer siebenjährigen Funkstille zwischen ihrem Vater und ihr als Ursprung eines schwierigen Familienverhältnisses hinterfragt. Ryba-Kahn stellt in DISPLACED die Fragen, die einer jungen Generation Jüdinnen und Juden in Deutschland ebenso sehr unter den Nägeln brennen, wie sie den Befragten unangenehm sind. Er passt so neben andere biografische Filme im JFBB- Programm wie WALTER KAUFMANN - WELCH EIN LEBEN! (von Karin Kaper und Dirk Szuszies), der beim Festival seine Weltpremiere feiert, Noemi Schorys SCHOCKEN – EIN DEUTSCHES LEBEN oder IRMI von Veronica Selver und Susan Fanshel, die beim JFBB ihre Europapremieren feiern.

Das Politische beschränkt sich nicht auf die dokumentarische Form. Spielfilme im JFBB-Wettbewerb wie der Politthriller PLAN A, die Tragikomödie THE SIGN PAINTER oder die biographischen Spielfilme LIEBER THOMAS und ADVENTURES OF A MATHEMATICIANerzählen, wie das Individuum von politischen Entwicklungen unter Druck gesetzt oder zum Handeln gezwungen wird – oder zum Verharren. In 200 METER vom palästinensischen Regisseur Ameen Nayfeh lebt Mustafa im Westjordanland und damit 200 Meter Luftlinie entfernt von seiner Familie in Israel. An der Grenz-Mauer, die sie und die Länder trennt, wird Mustafa zurückgewiesen. Er begibt sich auf eine 200 Kilometer lange Odyssee, auf der sich Wege von Menschen verschiedener Staatsangehörigkeiten und politischer Haltungen kreuzen. 2014 werden drei israelische Teenager von Hamas-Aktivisten entführt und ermordet. Kurz darauf wird der verbrannte Körper eines palästinensischen Jugendlichen gefunden. Ein israelisch-palästinensisches Team kreierte aus den Vorkommnissen die Serie OUR BOYS, die sich um die Ermittlungen der Kriminalfälle dreht.

Wichtiges wie wiederkehrendes Element des JFBB-Programms sind historische Erzählungen, die sich mit der Verfolgung von Jüdinnen und Juden auseinandersetzen. Dass Geschichte oft neu geschrieben und gelesen wird und Filme nicht losgelöst von gesellschaftspolitischen Schwingungen sind, zeigen u.a. deutsche und polnische Filme, die jüdische Erfahrungen reflektieren in der Sektion ZEITREISE. Ein filmhistorischer Vergleich mit Filmen, die bis zur Wende 1989 entstanden, den das JFBB anlässlich von 75 Jahren DEFA und in Zusammenarbeit mit dem Warsaw Jewish Film Festival präsentiert.
Hier wird das Private politisch und werden geschichtliche Auslassungen auffällig. In AFFAIRE BLUM (Erich Engel, 1948) macht der Mörder den Unschuldigen zum Gejagten: Gabler, kriminell und skrupellos, beschuldigt den jüdischen Fabrikanten Blum des Mordes an seinem Buchhalter. Ein Jahr früher, 1947, entstand THE LAST STAGE, Polens erster Spielfilm über die Shoa. Regisseurin Wanda Jakubowska war selbst in Auschwitz interniert. Im Anschluss an das Screening am Sonntag, den 15. August, geht das JFBB in die Analyse und lädt um 16.30 Uhr zu einem Podiumsgespräch mit Expert*innen zu den politischen Rahmenbedingungen der DEFA und polnischen Spielfilmproduktionen während des Kalten Krieges ein.

Sich mit einer Auslassung auseinanderzusetzen, hat sich Hans Hochstöger mit ENDPHASE zum Ziel gesetzt. Hierin sprechen Zeitzeug*innen über ein verbrecherisches Massaker, das Wehrmachtssoldaten und Einheimische im niederösterreichischen Hofamt Priel im Mai 1945 begangen haben.

Im Dokumentarfilm THE WAR OF RAYA SINITSINA begegnet Regisseur Efim Graboy einer Veteranin, die die Leningrader Blockade während des Zweiten Weltkrieges miterlebte. Selbst mit reichlich Orden auf der Brust ausgestattet, vermisst die Hauptfigur, die auch die Regie zu übernehmen scheint, dass keine Statue weibliche Kriegsheldinnen memoriert. Das Werk wird zum Dokument einer ungewöhnlichen Freundschaft.
Von einer solchen erzählt auch Ilay Mevorachs RINA UND ZAKI. Der kleine Dokumentarfilm portraitiert augenzwinkernd die besondere Verbindung von Zaki und der 94-jährigen Rina, bei der ein Checkpoint dem ganz normalen Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern im Wege steht.

RINA AND ZAKI läuft im Kurzfilmprogramm NOSH NOSH, wo die Werke der Nachwuchsfilmemacher*innen privat-politische Verwebungen ins Zentrum rücken, etwa eine jüdisch-muslimische Partnerschaft (NECRO-MEN), queeres Leben in einer orthodoxen Umgebung (RABBI FALSCH) oder die Fluchtgeschichten zweier Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Generationen (RÜCKKEHR INS MUTTERLAND).

Der filmische Nachwuchs liegt dem JFBB besonders am Herzen und dank Familie Goericke wird auch der Preis zur Förderung des filmischen Nachwuchses an ein junges Talent verliehen werden.
Ein Zeichen für Toleranz und ein Miteinander unterschiedlicher Lebensidentitäten setzen soll der JFBB-Preis für den interkulturellen Dialog, dotiert mit 2.000 EUR, gestiftet von der iSQI Inc Group.